Bald ist Weihnachten
Eigentlich, da wollte ich über Bäume schreiben. Ich mag sie. Ich genieße ihre Größe, ihren Schatten, ihre Frische und ihren Anmut. Und ich fühle mich unmittelbar an meine Lebendigkeit und meine Unschuld erinnert. Es macht mich unendlich traurig, wie sie zum Teil sehr systematisch nach und nach verschwinden.
Als ich aber in einem Supermarkt beim Einkaufen über neu ausgelegte Weihnachtsware (leckere Spekulatius, Lebkuchen und Dominosteine) fast stolperte, da wurde mir für einen kurzen Moment speiübel. Nicht, wegen des etwaigen Betruges, den man durchaus wittern könnte (sind diese nicht vielleicht doch einfach nur die eingeschmolzene Neuauflage vom Vorjahr?), sondern weil wir es in Europa bisher noch nicht ganz begriffen haben (und, da nehme ich mich zugegebenermaßen nicht aus: auch ich suche nach Antworten; Und auch ich werde so schnell keine finden, ausser meinen verschiedenen Tätigkeiten u.a. als freier Fotograf nachzugehen, mich dabei mächtig ins Zeug zu legen und u.a. durch spirituelle Praxis die ein oder andere Antwort vielleicht in mir selbst zu finden).
Schaue ich mich um auf unserem Planeten, dann sehe ich einen verdreckten und vergifteten Garten, verbrannt, gerodet und abgeholzt. Ausgenutzt und ausgebeutet. Leer und verlassen stehen die Baumstümpfe da in den Urwäldern Brasiliens, auf den Hügeln Borneos oder in Steppen Afrikas wie auf einem Schlachtfeld gleich. Zusammengerottet in kleinen noch übrig gebliebenen Teichen leben die Fische, die Krokodile und die Vögel. Sich sicher seiend, dass dieses auch der letzte Teich sein wird, an dem sie vorher Schutz und Wasser, Futter und Gemeinschaft erlebten. Sie wissen genau wie wir, was es heißt zu verdursten, zu verhungern und zu sterben. Und so wissen sie, weder ein noch aus, das sie sich auf die Wanderung, vielleicht die letzte Wanderung ihres Lebens machen müssen, so wie die vielen Menschen, die derzeit aus Afrika zu uns nach Europa und in Booten und Schiffen zu uns, ihrer letzten Hoffnung, kommen wollen. Die Tiere können nicht übers Meer schwimmen. Sie haben keinen Pass, keinen Anwalt, der für sie spricht und für ihre Rechte einstehen kann. Und so verbleiben sie in den letzten und verdorrten Landschaften, die vorher einmal ihr Lebensraum und ihre Heimat war. Langsam werden sie unweigerlich verhungern und die letzten ihrer Art werden unweigerlich ausgelöscht sein, noch bevor dieses Jahrhundert zu Ende vergehen vermag.
Die Partnerschaft von Mensch und Tier, sie scheint zerstört. Sie suchen unseren Kontakt und unseren Schutz. Und wir, wir beuten sie nicht nur aus. Wir zwingen sie zu einem ihrer Natur unwürdigen Leben und wir vernichten sie. Überall auf der Welt gehen die Tierarten zurück. Ich spüre es; vielleicht spüren sie es. Jedenfalls sind die Zeitungen und Nachrichten, ob online oder auf Papier voll davon. Und das genügt doch, oder?
Und so ist es doch auch zwischen uns: Wir bekriegen und vernichten uns schon seit Jahrhunderten, wenn nicht gar seit Jahrtausenden; Und immer in der Annahme, dass eine gewaltsame Auseinandersetzung ein probates Mittel der Konfliktlösung sei. Sie ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil: sie erzeugt Schmerz, sie erzeugt Angst, sie erzeugt Macht und sie erzeugt Hass. Und der Hass ist es, welcher in unseren Herzen lebt und sich durch alles zieht, wo sich vorher Lebendigkeit ein Nest erschaffen wollte. Anders formuliert: Das massenhafte Sterben der Kriege erzeugt einen millionenfache Trauer, welche sich in unseren Familien, in unseren Freunden und Verwandten als Gift einlagert und scheinbar nie und nimmer vollständig und ganz geheilt werden kann. Kinder sind immer die ersten Leittragenden dieser unerträglichen Dienerschaft an die Stärkeren.
Ich kann ich ihnen ein Lied davon singen: Als mein Stiefvater, so klein wie er war, so zerbrechlich wie ich es war in meiner Kindeszeit, in seinem ostpreußischen Dorf mit seinen wunderbaren Seen und Mooren, den auch dort immergrünen Wäldern aus Tannen und Fichten, den Kirchen und großen Höfen, fliehen mußte, da ist in ihm seine Welt gestorben. Seine Welt wurde, den Kanonendonner und dem Jaulen der Stalinorgel im Rücken bis auf hässlichste vergiftet und zerstört. Er mußte fliehen, wie alle anderen. Es hieß: „Pack deine Sachen, sonst kommst Du nie mehr wieder!“ Die Angst im Nacken vor dem Hagel der Maschinengewehre und der Flak machte er sich mit den vielen anderen seines Dorfes auf den Weg und wurde so viele male, so unendlich viele mal mit dem eigenen Tod konfrontiert, wie es nur schwer zu begreifen ist, wie dieser junge Mann es überhaupt geschafft hat lebend zum heutigen Grenzfluss (Oder) zu gelangen. Und selbst dort wurde er empfangen von der unerträglichen Grausamkeit des Krieges. Gefangen genommen wurde er von russischen Soldaten, an die polnischen übergeben und in ein Lager gesteckt; Ausgebeutet in Arbeitslagern, wie es die Nationalsozialisten und die SS dem Land Polen vorgemacht hatten. Er musste unter Hunger und Kälte, Hitze und Durst leiden.
Viele seine Kameraden verhungerten, er überlebte. Er schlug sich durch bis nach Westberlin und zum ersten mal war er sich sicher, nicht gleich wieder mit der Waffe, einem Messer oder Kalaschnikow bedroht zu werden; geschweige denn zu verhungern. Es sind diese schrecklichen Qualen dieses so aufrechten Mannes, welche ihn seit jeher in seine Träume begleiten. Maschinenbauer wollte er werden, Schlosser oder Tischler. In Westdeutschland angekommen wurde er ausgelacht und verachtet für sein Ankommen, seine Herkunft, seinen schlechten Charakter und seine Manieren, die er sich unweigerlich angewöhnen musste auf diesem entbehrungsreichen Kampf ums Überleben. Sich seiner Sache sicher seiend, dass er es aber geschafft hat durchzukommen, suchte er sich Arbeit und begann nach und nach ein zu Hause zu finden in einer Welt voller Armut und Hunger. Heute ist er ein anderer Mann. Aber in seinem Herzen, da wohnt dieser unsagbare tiefe seelische Schmerz, der nach Erlösung ruft. Es macht mich bis heute traurig und es ließ mich schon in Kindestagen zutiefst verzweifeln. Dieses ist eines der vielen Ergebnisse der hässlichen Fratze des Krieges, welche uns alle irgendwo in unseren Träumen begleitet und an uns nagt.
Es dauerte viele Jahre, bis ich lernte ihm zu vergeben. Am Ende umarmten wir uns und weinten gemeinsame Tränen. Es ist der Entschluss; der Wille, der in mir lange reifte. “Ja. Dieses Geschenk möchte ich mir, ihm und meiner Familie machen.” Er starb mit stolzen 91 Jahren.
Ein Kind, welches den Leichengestank im Krieg gerochen hat, vergißt diesen niemals. Und das ist in allen Kriegen so gewesen, aber auch im heutigen Afghanistan, den beiden Golfkriegen, dem Feldzug Maos gegen Chang Kai-Shek und dem derzeitigen Massakern in Syrien, dem arabischen Horn und den vielen kleinen und ungezählten Kriegen, in Latein- und Südamerika, in den versteckten Wäldern Afrikas und den Dschungeln Indonesiens und Malaysia. Es ist liegt einfach in der Natur der Sache. Als Kindersoldaten missbraucht, verwandeln sich unschuldige Kinder mit vormals existentiellen Hoffnungen und Wünschen in regelrechte Monster und sie werden niemals das wirklich das Licht Welt erblicken. Ihre Eltern, arm und halb verhungert wie sie sind, sind auf der Flucht und sehen sich in ihrer Not, das geliebte Kind, nicht in einer Krippe; Nein, sondern in einem Plastikeimer liegen zu lassen. So sind sie auf dem Weg in der Hoffnung auf eine bessere Welt, etwas zu Essen, einem Dach über dem Kopf und irren umher in dem Glauben, dass es in Europa eine bessere Zukunft gebe. Es solle da ja gut sein auf diesem anderen Kontinent. Es gebe fließend Wasser, Nahrung und vielleicht etwas mehr als eine staubige und einsame Hütte. Sie nehmen alle Risiken in kauf, hierher zu kommen und nur ein mal, ein einziges mal etwas durchatmen zu können. Jetzt stranden sie in Nordafrika und werden in Lagern gehalten, wie das Vieh, welches wir in unseren überdimensionierten Mastställen halten. Von Vergewaltigungen blutende und geschlagene Frauen liegen zusammen mit jungen Erwachsenen und schnell alt gewordenen Kindern. Sie werden es nicht mehr schaffen.
Aber jene, die doch irgendwie durchkommen, wagen wir es jegliche Hilfe zu verweigern, derweil jene, die wirkliche Hilfe leisten diffamiert werden. Sie müssen sich rechtfertigen; vor Gericht gestellt. Abgefrühstückt, diffamiert. Ich will nicht sagen, dass es in Europa und vor allem bei uns in Deutschland keine Kultur des Helfens gebe. Es gibt sie. Die vielen, die in den letzten Jahren zu uns kamen, einsam und verlassen, haben ein Dach über dem Kopf bekommen, Schutz und Essen. Sie werden betreut und gewöhnen sich langsam an ihre neue Umgebung, die sie aber sicherlich noch viele Jahre nicht ihr Zuhause nennen können. Mein Stiefvater hat sich immer zurück nach seiner Heimat gewünscht nach seiner entbehrungsreichen Flucht. Die Art und Weise, wie viele in unserem Land über diese Menschen denken macht mir allerdings Angst und Bange. Diebe sollen es sein, Verbrecher und Feiglinge. Vergewaltiger, Taugenichtse und Messerstecher. Das sind sie nicht. Sie sind arm, sie wünschen sich ein zu Hause, sie fühlen sich einsam und ausgeschlossen. Sie laufen mit ihren Freunden umher und suchen nach Ablenkung in dem tristen Leben, was sie unweigerlich glauben müssen zu führen[1].
Wenn wir ihnen hingegen unsere Aufmerksamkeit schenken, sie einladen zu uns, sei es auch nur zu einem Gespräch auf der Straße, werden sie sich sicherlich ganz bestimmt freuen. Sie werden von ihrem Land erzählen, von ihren Sitten und Bräuchen und ihren Lieben, die sie vermissen. Sie werden, wenn wir ihnen Liebe und Aufmerksamkeit schenken sich ganz langsam öffnen, gleich einer Seerose auf einem Teich, und sie werden anfangen ihre Tränen weinen zu können – wenn sie es möchten.
Es ist das Geschenk der Freundschaft – über Grenzen hinweg – was ganz schlicht auf uns wartet.
Ich möchte mich hiermit des Eindrucks erwehren, diese Menschen als unendlich traurig und hilflose Mitmenschen darzustellen. Ganz im Gegenteil: für mich sind sie unglaublich mutige und potente Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wer es schafft allem Widerstand zum Trotz unter Gefahr von Leib und Leben einmal quer über die halbe Welt zu wandern, die Hölle der Seenotrettung zu überleben und dann mit einem Smartphone auf einem öffentlichen Platz sich in aller Ruhe in ein kostenfreies WLAN einzuwählen, der hat mehr als nur meinen Respekt verdient.
Auch gibt es noch viele, viele unberührte Orte – voller Leben, voller Ursprünglichkeit und natürlicher, geradezu himmlischer Ordnung.
Was ist die Moral von dieser Geschicht’? Was sind die wahren Ursachen?
Was meinst Du?
Für mich ist es ganz einfach: Wir sind aufgefordert. Nicht die Bäume sollen brennen, geschweige denn abgeholzt oder permanent ein Steak auf einem Grill. Unsere Herzen sollen entflammen. Für diese Erde. Für die Pflanzen, für die Tiere, die Flüsse, die Seen, die Berge und vor allem zuerst: für uns Menschen. Für uns alle.
Meines lodert schon lange.
Bald ist Weihnachten.
Und Deines?
Mit besten Dank und guten Appetit,
Dein Holger
PS: Es war mein Stiefvater, der mir als ich darüber nachdachte Kunst und Philologie zu studieren, eine seiner Spiegelreflexkameras schenkte.
[1] Als ich selbst einst in meiner tristen kindlichen Einsamkeit durch die Straßen meiner damaligen Stadt zog und allen möglichen Unsinn anzustellen begann, da suchte ich Plätze auf an denen ich mich ablenken und die mir irgendetwas bieten konnten.
Heute sind es für viele die freien WLAN-Stationen in den Einkaufszentren oder eines Bahnhofs; für mich war es damals eine übergroße große Lego-Kiste in einem großen Kaufhaus in der ich stundenlang ein bisschen ungestört spielen durfte.